Herr Paul
Als Paulchen vor zwei Jahren ins Tierheim gebracht wurde, muss er schon lange auf der Strasse gelebt und großen Hunger kennengelernt haben. Nach zwei Monaten im Tierheim ist er immer noch spindeldünn und voller Angst, nicht genug zu essen zu bekommen. Fast fünf Monate ist er bei uns, bevor er sein Essen nicht voller Gier herunter schlingt und alles Essbare klaut!
Aber er ist ein ganz lieber Kater! Zu lieb und völlig angepasst. Die Menschen in seinem neuen Zuhause und die dicke alte Katzendame, die ihren alten Gefährten vor kurzem verloren hat und ihn problemlos akzeptiert, beobachtet er unentwegt, fragend geht sein Blick hin und her: Mache ich alles richtig? Was möchten Menschen und Katze? Wie wünschen sie, dass ich mich verhalte? Auf fremde Besucher läuft er zu, geht ihnen schnurrend um die Beine. Nie, ausnahmslos nie, beißt er, kratzt er, sträubt er sein Fell.
Es dauert Monate, bis er sein hastiges, gieriges Fressen ablegt, bis seine nervöse Unruhe etwas besser wird. Langsam merkt er: Hier im Haus und im Garten, in der stillen Vorortgegend, werde ich geliebt.
Nachdem er ein Jahr bei uns ist, stirbt unsere alte Katzendame. Paulchen hat immer mit ihr spielen wollen - aber er ist ein Seelchen, also muss die neue Dame an seiner Seite mit Sorgfalt ausgewählt werden. Ein kleines Mädel muss es sein, das ruhig und freundlich ist. Eine solche finden wir im Handorfer Tierheim. Das kleine Fräulein sieht aus wie zwölf Wochen, ist aber fast ein halbes Jahr alt. Unterernährt, dehydriert und voller Parasiten ist sie auf der Straße aufgelesen und (mit Tropf!) ins Leben zurückgeholt worden. Sie ist noch etwas schwach, doch nun soll sie in ihr neues Zuhause.
Winzig klein und fröhlich schnurrend sitzt sie im Wohnzimmer - doch Paulchen fürchtet sich zu Tode! Er kommt nur noch zweimal täglich wegen einiger hastiger Häppchen Katzenfutter ins Haus, bevor er wieder wie von Furien gejagt durch die Katzentür verschwindet. Nervös lauscht er auf jedes Geräusch. Ist sie immer noch da? Ja, er hört ihr Schnurren! Welche Panik erfasst ihn wieder! Er flieht.
So kann er sie in all ihrer Harmlosigkeit, in ihrer freundlichen Ruhe, nie kennenlernen! Nach fünf Tagen beschließen wir: So kann's nicht weitergehen, unserem armen Paulchen muss geholfen werden. Frau Wolf wird informiert und kommt zu uns.
Es ist ein frischer Spätsommertag, doch wir sitzen im Garten, da Paulchen sich nur noch draußen sicher fühlt. Er freut sich, dass wir trotz des Wetters so lange im Garten sind. Er ist ein richtiger Schmuser, doch dass er sich von Frau Wolf so entspannt den Bauch streicheln lässt, wundert uns sehr. Sie spricht lange mit uns - dass Paulchen uns so vorkommt, wie ein Jungtier, vielleicht viel zu früh kastriert, nicht wie ein doch nun erwachsener Kater. So angepasst, so bemüht, es uns recht zu machen! Quälend ist das manchmal, ihn in dieser nervösen Anspannung zu sehen.
Frau Wolf spricht auch mit ihm, erzählt ihm von Koschka, wie freundlich sie ist und wie nett es mit den beiden werden wird. Und dabei streichelt sie Paulchen gaaanz wunderbar lange! Zum Abschluss fragt uns Frau Wolf, ob wir wüssten, dass Paulchen sich, wenn sie ein passendes Mittel findet, vielleicht sehr verändern könne. Ja, das wissen wir, aber die Hauptsache ist, er wird ein glücklicher Kater!
Und unser Kater hat sich verändert!
In zärtlichen Kraulestunden kann er immer noch ein Paulchen sein, doch sonst ist er richtiger Herr Paul geworden.
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